Die Druckvorlage

Ein skurriler Sterbehelfer mit ungewöhnlichem Lebenslauf erklärt seinem neuen Bekannten die „richtige“ Art, Zyankali einzunehmen – und erzählt dabei von bewegenden letzten Wünschen seiner Klienten.

„Da hast du eine falsche Vorstellung“, sagte Urs ernst.
„Zyankali wirkt nicht schlagartig, sondern erst nach einigen Minuten – Minuten des qualvollen inneren Erstickens! Du solltest vorher unbedingt eine Schachtel Benzodiazepin mit einem guten Glas Whisky runterspülen und erst dann, wenn du richtig müde wirst, mit dem letzten Schluck die Zyankalikapsel nehmen. Gönn dir einen wirklich guten Whisky. Es soll der beste und letzte deines Lebens sein. Die Benzos bekommst du gratis von mir dazu.“
Ich schluckte. Dann nickte ich langsam und beschloss bewusst vom Thema abzulenken.
„Was hast du eigentlich gelernt und was machst du beruflich so?“, fragte ich Urs.
„Ich habe zuerst drei Semester Chemie studiert, dann drei Semester Philosophie und zuletzt drei Semester Psychologie. Länger als drei Semester habe ich es in keiner Fakultät ausgehalten. Jetzt arbeite ich in der Altenpflege und erfülle alten Menschen besondere Wünsche. Nicht nur Sterbehilfe. Ich fahre auch mal einen Klienten nach Rom, wenn er nochmal den Papst sehen oder an die Adria, wenn er nochmal Meeresluft schnuppern will. Kürzlich war ich mit einer alten Frau, die nicht mehr lange zu leben hatte, in Monaco und habe sie im Rollstuhl von Spieltisch zu Spieltisch gefahren. Sie wollte unbedingt ihr gesamtes Vermögen verspielen.“
„Und? Hat sie es geschafft?“, fragte ich amüsiert.
„Nicht ganz, aber fast. Jedenfalls war sie glücklich und strahlte den ganzen Abend wie die pure Sonne, egal, ob sie gewonnen oder verloren hatte.“
„Was wäre wohl gewesen, wenn die Ärzte sich geirrt hätten und sie noch zehn Jahre mittellos hätte leben müssen?“
„Sie war eine Spielerin. Ich habe erfahren, dass sie zwei Wochen nach unserem Ausflug friedlich starb.“
„Hatte sie Erben?“
„Keine Ahnung. Mich interessieren nur die Wünsche meiner Klientinnen und Klienten“, meinte Urs.
Jetzt wurde mir der Kerl tatsächlich langsam sympathisch.
Wir machten uns ans Werk. Wie abgesprochen, wollte ich beim gesamten Produktionsprozess meiner Zyankalikapsel dabei sein, damit mir für den wichtigsten Tag meines Lebens kein Scharlatan für teures Geld ein Placebo unterjubeln konnte.

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