Mehrfach täglich donnert ein Rettungshubschrauber über unsere Köpfe hinweg. Wir haben uns schon fast daran gewöhnt. Oft fragen wir uns, zu welchem schweren Verkehrsunfall oder welchem tragischen Schicksal dieses hoch spezialisierte Team gerade unterwegs ist? Welchen Patienten sie wohl an Bord haben? Ob sie gerade um sein Leben kämpfen? Dr. Tino Lorenz beschreibt nicht nur medizinisch korrekt und mit chirurgischer Präzision den Ablauf verschiedenartigster Notarzteinsätze mit dem Rettungshubschrauber, sondern durchleuchtet auch mit hoher Sensibilität die Gedanken und Gefühle der Patienten, der Unfallopfer, der Angehörigen, der Hubschrauberbesatzung und des Klinikpersonals. Dabei wird der scharfe Kontrast zwischen schwersten physischen und psychischen Belastungen im Einsatz, Leerlaufzeiten, Familienleben, sozialen Kontakten und eigenen Bedürfnissen deutlich. Ein Buch, das tief unter die Haut geht!
Vorschau
Was sollen wir tun, mit dem gerade zwanzigjährigen Soldaten, dem nachts eine zu früh detonierte Sprengladung auf dem Truppenübungsplatz Arm, Bein und Gesicht zerfetzt hat und der bei vollem Bewusstsein die Dinge, die um ihn herum geschehen, miterlebt und nichts sehnlicher erwartet, als dass irgendetwas mit ihm geschieht? Was tun mit dem Mittvierziger, dem vor dreißig Minuten das Herz aussetzte und somit das Gehirn ohne Blutzufuhr blieb? Werden sie uns dankbar sein, wenn es gut geht? Und werden sie uns zum Teufel wünschen, wenn wir ihr Leiden nur verlängerten? Rettung, intensive Medizin um jeden Preis, nur weil wir neue Verfahren, bessere Apparate haben? Was hat das Kind gedacht, was gefühlt, als es in unseren Armen starb? Und wie geht es uns dabei? Wie lange halten wir das aus? Wir wissen auf diese Fragen keine erschöpfenden Antworten und müssen sie uns doch immer und immer wieder stellen und stellen lassen.
Über 20 Jahre liegt er nun zurück, mein erster Einsatz als Notarzt an Bord eines Rettungshubschraubers. Trotzdem ich zu jener Zeit schon seit vier Jahren Erfahrung auf dem Notarztwagen gesammelt hatte und die Ausbildung zum Chirurgen mit all ihren Härten eine gewisse mentale Resistenz gegenüber Schwerverletzten verlieh, waren meine Knie weich, als ich erstmals an Bord eines Helikopters abhob. Noch nie vorher war ich mit einem Hubschrauber geflogen. Mich erfüllte eine fieberhafte Erwartung, als ich vor dem mit High-Tec ausgestatteten Riesenvogel stand.
Wir neigen nicht zu Ängstlichkeiten, wir neigen vielmehr dazu, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Das Leben mit diesem uns so fordernden Job gleicht dem Zusammensein mit einer Diva – gelegentlich triumphal, geht es die meiste Zeit reichlich lustlos mit uns um. Mithin schultern wir Schlafmangel, Familienkrisen und Stress und beschreiten damit „belastet“ unseren Weg. Das Schicksal anderer bestimmt den Tagesablauf, legt unser Arbeitspensum fest. – Dr. Tino Lorenz
Leseprobe 1: Delta-Hotel-Tango-India-Bravo
…Noch im Laufen beginnen meine Blicke das Umfeld abzusuchen. Das im Anflug schon registrierte Chaos breitet sich entlang der deutlich sichtbaren Brems- und Rutschspur des Wagens aus. Die Eltern der Kinder haben sich selbständig aus dem Wrack, welches nur noch entfernt an einen Pkw erinnert, befreien können und versuchen ihre beiden, auf der Rückbank eingeklemmten und heftig wehklagenden Töchter zu beruhigen. Das Mädchen von schätzungsweise sechs Jahren schreit herzzerreißend, klagt lauthals über ihren stark blutenden, offensichtlich gebrochenen rechten Unterarm. Okay, wer laut schreit ist bei Bewusstsein, wer über einen blutenden Arm klagt ist orientiert, geht es mir durch den Kopf. Ihre vielleicht zwei Jahre jüngere Schwester jedoch liegt zusammengekrümmt, kreidebleich und wimmernd zwischen Beifahrersitz und hinterer Sitzbank eingeklemmt. Die strohblonden Haare kleben blutverkrustet im blassen Gesicht, die Augen zusammengekniffen, als wolle sie alles, was um sie herum geschehen ist, verdrängen.
Die Schuhe der Mädchen liegen verstreut auf der Wiese vorm Wagen, daneben einige Spielsachen. Ich werde mich an solche Bilder wohl nie gewöhnen können.
Ein starker, penetranter Benzingeruch erfüllt die Luft. „Zuerst die Kleine!“, schreie ich Frank zu, während er sich…
Leseprobe 2: Nachtflüge I
….Da unser Hubschrauber in Sachsen, wie bereits bekannt, der einzige auch nachts verfügbare ist, ging der Auftrag an uns.
„Stange im Kopf, was soll das denn sein?“, fragend blickt Frank, unser „Rettungsassi“, zu mir rüber. „Keine Ahnung, bestimmt wieder eine jener übertriebenen Angaben von aufgeregten Unfallbeteiligten“, bin ich überzeugt.
„Wir können fliegen“, meint Olaf mit Blick aufs Wetterradar. „Die Schlechtwetterzonen erreichen unser Gebiet erst in der zweiten Nachthälfte. In fünfzehn Minuten könnten wir vor Ort sein.“
Nach zwei absolvierten Platzrunden, um sich mit den unbekannten Örtlichkeiten vertraut zu machen, landen wir sanft auf der von zwei Feuerwehren ausgeleuchteten Wiese. Ungeduldig erwarten uns die Rettungskräfte.
„Kommen Sie, schnell, schnell! Es ist gleich da vorn.“
Der spärlich von diffusem Taschenlampenlicht flankierte Weg macht eine scharfe Biegung, verläuft an einem Maschendrahtzaun entlang, in den wir auf dem unebenen Untergrund haltsuchend mit den Fingern hineingreifen. Wir kommen hier nur langsam voran. Einige hundert Meter vom Landeplatz steigen wir eine taghell ausgeleuchtete Böschung hinab.
Ich glaubte bis dahin schon fast alles gesehen zu haben und dass mich so leicht nichts mehr beeindrucken könnte, doch was ich hier erblicken musste, ließ mir den Atem stocken. In solchen Momenten bin ich dankbar für meine langjährigen Erfahrungen im Notarztdienst, die mir helfen…
Leseprobe 3: Schützenfest
…Schon nach vierminütigem Flug landen wir sanft auf dem Dach der Klinik. Wie gewohnt werden wir schon von mehreren Schwestern und Pflegern in der typischen OP-Kleidung der Rettungsstellenmitarbeiter erwartet.
Mental waren wir schon auf einen derartigen „sterilen“ Empfang eingestellt. Die Schwester, die uns heute in Empfang nimmt, lässt unseren Atem stocken. Gut 1,70 m groß, super Figur, blondes nackenlanges lockiges Haar, hochhackige Pumps, leuchtend rot lackierte Finger- und Zehennägel, der Kittel so kurz wie ein breiter Gürtel. Die obersten drei Knöpfe des Kittels geöffnet, erlauben „tiefe“ Einblicke mit grandiosem Ausblick – Mamma mia! Bitte kneift mich mal – möchte ich meine Freunde am liebsten auffordern.
„Zwar keine besonders zweckmäßige Berufskleidung, aber gut, total gut. Super“, raunt Bernd mir kaum hörbar zu…
Beim Ausladen vermissen wir Frank. Er hat sich wenige Meter hinter der Schwester postiert und „genießt“ sichtlich jede ihrer die Phantasie stimulierenden Bewegungen im Bemühen den Verunfallten umzulagern. „Könntest du vielleicht auch mal mit anfassen?“, fordere ich ihn abrupt aus seinem Tagtraum reißend, aber unmissverständlich auf. In meiner Stimme schwingt allerdings ein selbstbemitleidender Unterton ob seines beneidenswerten „Standpunktes“. Alle drei laufen wir am Kopfende der auf ein Rollgestell aufgelegten Trage, der besseren Aussicht wegen. Am Fußende, vornweg die Schwester. Wundervoll, manche Dienste können so schön sein!
Leseprobe 4: Brandmale
…Diese Feuererscheinungen stellten sich als Lichtbögen heraus. Ausgelöst hatte diese ein S-Bahn-Surfer, der auf dem Dach der Bahn offensichtlich zweimal mit der Hochspannungsleitung in Kontakt geraten war. Nach dem Zughalt fiel der 18-jährige Bursche mit schwersten Verbrennungen an beiden Armen und am gesamten Rücken sowie an den Füßen vom Dach herab auf die Gleise. In der Luft hängt der süßliche Geruch von verbranntem Fleisch. Im Rettungswagen selbst ist der Geruch noch viel intensiver, schier unerträglich. Mittendrin der vor Schmerzen wimmernde Junge.
Das sich bietende Bild ist grauenvoll. Der Notarzt des Rettungswagens scheint mit der außergewöhnlichen Situation offensichtlich überfordert. Die Suche nach möglichen peripheren Zugängen zur Medikamenten- und Flüssigkeitsverabreichung hatte er aufgrund der schweren Verbrennungen an den oberen Extremitäten aufgegeben. Schmerzmittel waren lediglich intramuskulär verabreicht worden, konnten allerdings derartig appliziert kaum ihre eigentliche Wirkung erreichen. Unschwer lassen sich die drittgradigen Verbrennungen als Folge der Stromeinwirkung, als Ein- und Austrittsmarken des Lichtbogens deklarieren.
…Die Hände sind zum Teil zusammengeschrumpft, sehen aus wie Klauen. Ungefähr fünfzig Prozent der Körperoberfläche sind thermisch geschädigt, meist dritt- also hochgradig. Die sich daraus ableitenden Überlebenschancen des jungen Mannes betragen kaum mehr als fünfundzwanzig Prozent – verdammt wenig. So schwere Verbrennungen waren mir bisher nur in den Vorlesungen meiner Studentenzeit demonstriert worden …
Leseprobe 5: Paula (Anmerk.: Paula = jüngste Tochter des Autors)
…Die Flugminuten erscheinen endlos. Alle dreißig Sekunden schaue ich auf die Uhr, versuche mich am Boden zu orientieren, Ort für Ort gehe ich in Gedanken durch.
Es wird der längste Flug meines Lebens. Schon ein wenig genervt von meinen Anfragen, ob uns die Rettungsleitstelle Näheres mitteilen kann, kommt die unvermeidbare Frage aus dem Cockpit: „Was ist denn heute los mit dir, so kennen wir dich doch gar nicht?“
„Paula ist in Heidenau.“
Ruckartig drehte sich Frank zu mir um. Er brauchte nichts zu sagen.
Wenig später kreisen wir über der Unfallkreuzung. Vergeblich versuche ich aus der Luft Einzelheiten zu erkennen. Eine riesige Menschenansammlung drängt sich an der Unfallstelle.
Die Kreuzung ist auf einer Fahrbahnseite noch nicht abgesperrt, noch mal vergehen einige Minuten, bis wir endlich zur Landung gehen können.
Die Kufen haben den Boden noch nicht ganz berührt, da springe ich aus der geöffneten Helikoptertür und renne quer über die zum Teil noch befahrene Strasse, vorbei an bremsenden und hupenden Autos in Richtung Unfallstelle ohne auch nur irgendetwas um mich herum wahrzunehmen. Ich spüre nur mein Herz, als wolle es aus meinem Brustkorb springen, Tränen schießen mir in die Augen. Am ganzen Körper bebend reiße ich die Tür zum Rettungswagen auf, in welchen das verunglückte Kind zunächst gebracht worden war. Ich sehe lange, rote Haare – ein Mädchen von etwa 11 Jahren.
Eilig wische ich mir übers Gesicht und ziehe meine inzwischen durchschwitzte Notarztjacke aus – ich funktioniere wieder, ich muss funktionieren!
Der Zustand des Kindes ist äußerst kritisch. Die Schädelverletzungen sind sehr ausgeprägt, es ist tief bewusstlos. Rasch versorgen wir das Mädchen und stellen die lebensnotwendigen Funktionen sicher.
„Die Mutter steht draußen, können sie ihr was sagen?“
Was soll ich ihr sagen, ich weiß wie sie fühlt. Kann man da überhaupt was sagen ohne falsche Hoffnungen zu machen oder unnötige Besorgnisse zu wecken? Ich muss mit ihr reden! „Der Zustand ihrer Tochter ist sehr kritisch. Sie wird künstlich beatmet. Wir fliegen sie in die Uniklinik, bitte setzen Sie sich in einer Stunde mit den Kollegen dort in Verbindung, dann wissen wir mehr.“
Eilig bringen wir das Mädchen in unseren Hubschrauber…
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